Neue Nähe durch Nachverdichtung
Falk stammt ursprünglich aus Baden-Württemberg. Er ist vor gut zehn Jahren wegen der guten Jobperspektiven nach Schleswig-Holstein gezogen. Als Industrie-Mechatroniker konnte er sich die Jobs im boomenden Norden beinahe aussuchen. Auch seine Frau Celia hat als Organisationsentwicklerin rasch eine neue Stelle bei einem mittelständischen Industriezulieferer gefunden. Falk mag das besondere Flair in Schleswig-Holstein: Der Zukunftsoptimismus und Pragmatismus der Menschen – nicht zuletzt ausgelöst durch den nachhaltigen Industrieboom – ist ansteckend.
Der starke Zuzug entfacht eine permanente Dynamik in den Kommunen, alles scheint immerzu im Wandel zu sein. Celia und Falk lieben diese Dynamik. Sie selbst leben mit ihrer vierjährigen Tochter Antonia auf 52 Quadratmeter in einer Vier-Zimmer-Wohnung, die im Zuge der Nachverdichtung auf dem Dach eines alten Handwerksbetriebs entstanden ist. Die Wohnung ist Teil eines aufgestockten, mit Holz- und Glasfassaden versehenen Ensembles von sechs Wohnungen. „Dachflächen sind die neuen Grundstücke“, hatte die Maklerin damals lachend erklärt. Falk liebt es, morgens seinen Kaffee im Wohnzimmer mit der großen Glasfassade zu trinken und den Tag mit einem Blick in die Nachbarschaft zu beginnen.
Uns würde interessieren, was Ihnen in einem Zukunftsszenaio wichtig ist und wo Sie Prioritäten setzen. Wir würden uns deshalb freuen, wenn Sie an unserer Umfrage zu diesem Thema teilnehmen:


In den hängenden Gärten
Falk ist mit seiner Tochter Antonia zum Tomatenpflücken in der Nachbarschaft unterwegs. Im Viertel wird das Prinzip der „offenen Gärten“ gepflegt, d.h. viele Gärten stehen der Nachbarschaft zur Nutzung zur Verfügung – oder wurden im Zuge der Nachverdichtung gleich als Gemeinschaftsgärten geplant. Dazu zählen neben zahlreichen Dachgärten auch die grünen Wände im Viertel, von den Bewohner:innen scherzhaft auch „die hängenden Gärten von Schleswig-Holstein“ genannt.
Die vertikale Begrünung zielt nicht nur auf den Erhalt von Biodiversität ab, sondern dient auch als Anbaufläche für geeignete Nutzpflanzen. Eine Nachbarschafts-App zeigt den Bewohner:innen im Viertel an, wo gerade was erntereif ist. Damit die Pflanzen möglichst wassersparend wachsen, setzt die Stadt schon länger auf Tröpfchenbewässerung, die mittels Sensorik optimal ausgesteuert wird. Um die Pflege der Pflanzen kümmert sich eine Gruppe Freiwilliger aus dem Viertel. Antonia liebt es, an ihrem Lieblingsstrauch mit Papa Tomaten zu pflücken. Und auch die schönen Blumen ringsherum gefallen ihr gut, auch wenn sie die vielen Bienen und Hummeln ein wenig skeptisch betrachtet. Die Fassadenbegrünung dient aber nicht nur der Lebensqualität und der Optik im Viertel, sie spielt auch bei der Kühlung von Gebäuden im Sommer sowie für das Mikroklima eine große Rolle. Oh, da ist ja Frau Polczak, die Nachbarin. Antonia freut sich, rennt zu ihr und hilft ihr beim Ernten der Spitzpaprika.


Auf der Baustelle
Falk spaziert mit Antonia auf dem Rückweg an einer Baustelle im Viertel entlang. Auf dem Flachdach eines Supermarkts, der sich in einem Eckgebäude befindet, entstehen modular konzipierte Werkswohnungen im Auftrag eines ortansässigen international tätigen Marktführers. Nebenan sind kürzlich auf zwei Garagen zwei Tiny Houses entstanden, um Wohnraum für Studierende zu schaffen. Über der Baustelle kreisen Lastdrohnen, die Baumaterialien von A nach B bringen.
Falk versucht Antonia zu erklären, dass keine Baustelle hier der anderen gleicht. Die Nachverdichtung in der dicht bebauten Nachbarschaft erfordert vielmehr hochgradig flexible Lösungen. Antonia staunt über die Bauroboter, die in beeindruckender Weise komplexere Tätigkeiten selbstständig meistern können. Ein 3D-Drucker bringt in schneller Geschwindigkeit Schicht für Schicht die multifunktionale Außenfassade aus biologischen Reststoffen an. Diese hat einen feststehenden Sonnenschutz, Belüftung sowie eine akustische schallabweisende Oberfläche integriert. Die Kombination einer Vielzahl verschiedener Elemente hat das Bauen und Umbauen in der Region Nord deutlich schneller und kostengünstiger als vor 20 Jahren gemacht. Dazu zählen neben seriellem Bauen und Sanieren mit vorgefertigten Elementen und 3-D-Druck auch die Nutzung von bereits vorhandenen Rohstoffen und biogenen Materialien, die nicht durch chemische Verfahren gewonnen wurden. Politisch haben Steueranreize und das pragmatische Absenken von Baustandards zu einem Abflachen der Kostenkurve beigetragen. Auch Celia und Falk waren überrascht, wie schnell der Einzug in ihre neue Wohnung möglich war.


Neugestaltung, simuliert am digitalen Zwilling
Celia und Falk sind gerade beim Quartiersrat angekommen. Frau Polczak, die Nachbarin, passt solange auf Antonia auf. Celia und Falk sind als Bewohner:innen des Viertels eingeladen worden, darüber abzustimmen, wie eine neu ausgewiesene Baufläche auf einem alten Areal einer ehemaligen Brauerei genutzt werden soll. Auch Wirtschaftsverbände und Wissenschaft sind zur Diskussion eingeladen, da entschieden werden soll, ob die Fläche zum Wohnungsbau, als neues Fachbereichsgebäude der örtlichen Hochschule oder als Gewerbegebiet genutzt werden soll.
Um die Entscheidung zu erleichtern, werden verschiedenen Bebauungsszenarien mittels digitaler Zwillinge durchsimuliert. Die Baudezernentin der Stadt moderiert. Sie stellt die verschiedenen Pläne mittels Hologrammen, die in die Mitte des Raumes projiziert werden, dar. Alle Umbaupläne sollen möglichst viel der vorhandenen Bausubstanz nutzen. Celia und Falk hören sich zunächst die Argumente der verschiedenen Interessengruppen in Ruhe an, bevor sie sich in die Diskussion einmischen. Celia ist skeptisch, ob die Nachbarschaft weiteren Zuzug durch die Ansiedlung einer weiteren Firma verkraften kann. Gleichzeitig wäre es schon wichtig für die Sicherung des Standorts, wenn wie vorgeschlagen eine Software-Firma in die Räumlichkeiten ziehen würde. Verschiedene Mischnutzungen werden diskutiert und in Echtzeit am digitalen Zwilling simuliert. Am Ende entscheidet sich eine Mehrheit für das Modell 80:20, wonach 80% des Geländes als Gewerbeimmobilie und 20% als sozialer Wohnungsbau genutzt werden. Die Baudezernentin nickt zufrieden, auch Celia und Falk können gut damit leben.


Die 5-Minuten-Stadt
Falk trifft sich am Nachbarschaft-Kiosk auf einen Kaffee mit seinem Freund Jose. Er ist Stadtplaner und kommt auch deshalb immer gerne ins Viertel, um zu sehen, was sich schon wieder verändert hat. Jose hat seine Boule-Kugeln mitgebracht, um später auf dem Boule-Feld im Gemeinschaftsdachgarten eine Runde zu spielen. Jose liebt es, im Viertel zu sein. Durch die Nachverdichtung in den letzten Jahren ist seiner Meinung so etwas wie eine historische Altstadt mit vielen Gässchen entstanden, aber mit modernen Gebäuden.
Ein weiterer Punkt, den Jose sehr schätzt, ist, dass die Stadt schon 2032 entschieden hat, die Innenstadt komplett autofrei zu halten. „Das ist schon verrückt, früher war die 15-Minuten-Stadt mit kurzen Wegen das Ziel für uns in der Stadtplanung, aber bei euch ist alles so dicht beieinander, dass wir von einer 5-Minuten-Stadt sprechen können“, lacht er. Falk grinst. Er weiß, was jetzt kommt. Gleich wird Jose sagen, dass er auch hier wohnen möchte. Und tatsächlich, da kommt der Satz auch schon…. Aber Jose hat ja recht. Supermärkte, Schulen, Kitas, Repair-Café, Sportclub, Bars, Restaurants, Bibliothek, alles irgendwie direkt um die Ecke. Und trotzdem ist es nicht anonym. Viele Gebäude sind sogenannte Dritte Orte – ein Begriff, den Falk von Jose gelernt hat. Damit ist gemeint, dass sie über ihre eigentliche Funktion hinaus als Begegnungsorte in der Nachbarschaft dienen. Daher sind in der Bibliothek im Viertel neben dem Dach-Gemeinschaftsgarten auch ein Repair-Café integriert, in dem es neben ehrenamtlichen Reparierenden auch hervorragenden Kuchen gibt. „So“, lacht Falk und zeigt auf die Boule-Kugeln, „dann trink mal aus, damit wir eine Runde spielen können“.